Laut, spontan, kontaktfreudig und nie um einen Spruch verlegen – das war bis vor einigen Jahren das Ideal, dem ich nachgelaufen bin. Ich wollte unbedingt extrovertiert werden.

Denn ich selbst war stets das genaue Gegenteil: Ich habe mich in jeder sozialen Situation unsicher gefühlt. Auf einer Party mit fremden Leuten ins Gespräch kommen? Undenkbar! In der Schule, der Uni oder im Job einen Vortrag halten? Der blanke Horror! Jemanden anrufen, den ich nicht kannte? Ich wäre lieber auf der Stelle im Boden versunken, als am Telefon improvisieren zu müssen.

Extrovertiert werden – wie geht denn das?

„Warum bist du so still?“

„Du musst mehr aus dir herauskommen!“

Welcher ruhige Mensch kennt Sätze wie diesen nicht? Es scheint, als hätten wir in dieser lauten Welt einen Nachteil durch unser stilles Wesen und müssten uns dringend ändern.

Auch ich war fest davon überzeugt, dass mit mir etwas nicht stimmte. Und die Kommentare und Erwartungen von meinem Umfeld haben mich immer mehr in dem Wunsch bestärkt, extrovertiert zu werden.

Also ging ich regelmäßig mit Freunden auf Partys, suchte mir einen Nebenjob, bei dem ich mit vielen Menschen zu tun hatte und ersetzte mein vorher eher unauffälliges Aussehen durch ein, nun ja, sagen wir mal besonders außergewöhnliches Styling (sprich: schwarz gefärbte Haare, Smokey Eyes, schwarz lackierte Fingernägel, Krawatten und Nietengürtel).

Ich war damals nämlich mitten in meiner Rock-Musik-Phase und war begeistert von dem selbstbewussten Auftreten meiner Lieblings-Stars. Ich hatte die Hoffnung, dass ich mit einem ähnlichen Look automatisch auch selbstbewusster und extrovertiert werden würde.
Gleichzeitig schaute ich mir Verhaltensweisen von Extrovertierten ab. Ich versuchte, schneller zu reagieren, lauter zu sein, offener auf andere Menschen zuzugehen und mich unter vielen Menschen wohl zu fühlen. Im Grunde setzte ich mir eine Maske auf, um so zu sein, wie ich dachte, dass die anderen mich haben wollten.

Das Ganze funktionierte natürlich nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Denn so sehr ich auch versuchte, extrovertiert zu werden und aus mir herauszukommen – in kritischen Situationen bröckelte die Fassade und meine schüchternes Ich war wieder da. Ganz zu schweigen davon, dass es mich eine Menge Energie gekostet hat, ständig unter Menschen zu sein.

Irgendwann redete ich mir schließlich ein, dass ich eben einfach schüchtern wäre und nichts daran ändern könnte. Ich ging von einem Extrem ins nächste über und vermied soziale Situationen so gut ich konnte. Heute weiß ich: Es war die perfekte Ausrede für mich, dem aus dem Weg zu gehen, was mir Angst machte.

Das eigentliche Problem: Ein großes Missverständnis

Die Lösung des Problems war an ganz anderer Stelle zu finden. Lange Zeit wusste ich nämlich gar nicht, dass es einen Unterschied zwischen Schüchternheit und Introversion gibt.

Ich dachte, dass ich einfach mit der ständigen Angst, etwas Falsches zu sagen, kritisiert oder zurückgewiesen zu werden, leben müsste.
Ich war mir sicher, dass ich mich damit abfinden müsste, rot zu werden, sobald sich die Aufmerksamkeit auf mich richtet.
Ich glaubte fest daran, dass ich nichts daran ändern könnte, dass mir jedes Mal die Worte fehlten, sobald ich auf andere Menschen traf.

Du kannst dir sicher vorstellen, wie frustrierend das war. Als wäre da eine unsichtbare Wand, die in diesen Momenten zwischen mir und anderen Menschen stand.
Und jedes Mal, wenn ich es wieder nicht geschafft hatte, diese Wand zu durchbrechen, kamen die negativen Gedanken: „Es kann doch nicht so schwierig sein. Andere Menschen schaffen es ja schließlich auch!“

Mein Schlüsselmoment: Von da an wollte ich nicht mehr extrovertiert werden

„Als Kind warst du ganz anders.“

Das klingt erst mal nach einem unbedeutenden Satz, den man vielleicht mit einem Schulterzucken abtun könnte. In einem bestimmten Kontext aber, kann dieser eine Satz eine erstaunliche Wirkung haben.

In meinem Fall war es meine Mutter, die diesen Satz fallen gelassen hat. Einen Moment zuvor hatte ich ihr erzählt, wie mich meine Schüchternheit immer wieder daran hinderte, meine Ziele zu erreichen. So habe ich z. B. meinen Traum vom Tanzen aufgegeben und es immer wieder verpasst, neue Freundschaften zu schließen oder beruflich voranzukommen.

„Als Kind warst du ganz anders“, war ihre schlichte Antwort und in dem Moment machte es Klick in meinem Kopf. Ich war immer davon ausgegangen, dass Introversion und Schüchternheit genau das Gleiche wären – und dass die Schüchternheit damit einfach zu meiner ruhigen Persönlichkeit dazugehörte. Aber als ich erkannte, dass ich eben nicht schon immer so schüchtern gewesen war, traf ich eine Entscheidung: Ich würde alles daran setzen, meine Schüchternheit zu überwinden. Und mein Plan, extrovertiert werden zu wollen, war damit endgültig vom Tisch.

Ich war mir sicher: Wenn es früher einmal einen Teil in mir gegeben hatte, der spielend leicht mit anderen Menschen in Kontakt kommen konnte, dann musste es auch möglich sein, diesen Teil wieder hervorzuholen.

Ich machte mir bewusst, wie sehr mich mein schüchternes Verhalten im Alltag blockierte. Und nicht nur dort, sondern vor allem auch, wenn es darum ging, mich weiterzuentwickeln. Die Schüchternheit verbaute mir nämlich sämtliche Möglichkeiten, neue Leute kennenzulernen oder etwas Neues auszuprobieren. Davon mal abgesehen, konnte es auch nicht so gesund sein, jeden Tag Nervosität, Angst und Stress zu erleben. Das waren für mich genug Gründe, endlich etwas zu ändern.

Introvertiert oder schüchtern? Ein riesiger Unterschied

Schüchterne Menschen wünschen sich mehr Kontakt zu anderen Menschen, werden aber von ihren Ängsten daran gehindert. Introvertierte Menschen dagegen haben von Natur aus ein geringeres Bedürfnis nach sozialen Kontakten und genießen es, auch mal Zeit für sich allein zu haben. Aber wenn sie mit anderen Menschen reden wollen, stellt das kein Problem für sie dar.

Schüchternes Verhalten beruht meistens auf Angst (nämlich der Angst vor Zurückweisung). Introversion ist eine (vollkommen gesunde) Persönlichkeitseigenschaft.

Wichtig: Es ist vollkommen in Ordnung, ja sogar richtig toll introvertiert zu sein. Denn das, was dich blockiert, ist nicht deine ruhige Art, sondern dein schüchternes Verhalten. Und dadurch, dass es eben nur ein antrainiertes Verhalten ist, das du dir irgendwann (aufgrund von schlechten Erfahrungen) antrainiert hast, kannst du es dir auch wieder abtrainieren.

Als ich das verstanden hatte, ist eine riesige Last von mir abgefallen. Ich konnte also meine Schüchternheit überwinden, ohne meine ruhige Art zu verleugnen.

Neues Ziel: Selbstbewusst introvertiert werden

Also habe ich mich in den darauffolgenden acht Jahren auf die Suche nach Strategien gemacht, mit denen ich meine Schüchternheit überwinden und mein Selbstbewusstsein stärken konnte. Ich wollte nicht mehr extrovertiert werden, sondern einen Weg finden, auf introvertierte Art selbstbewusst zu sein.

Dafür habe ich etliche Bücher, Artikel und Videos durchgearbeitet, Seminare besucht, Experten befragt und Strategien getestet. Ich bin hingefallen und wieder aufgestanden, habe mich in äußerst peinliche Situationen manövriert, aber auch viele Erfolgserlebnisse gehabt und vor allem habe ich aus all dem eine Menge gelernt. Das war mein Einstieg in die Persönlichkeitsentwicklung und später (als ich meine Liebe zum Schreiben wiederentdeckt hatte) auch der Startschuss für eigene Bücher und diesen Blog.

Heute weiß ich, dass ich damals eigentlich gar nicht extrovertiert werden wollte. Denn hinter diesem Wunsch stand ein großes Missverständnis: Ich wollte nur extrovertiert werden, weil ich davon überzeugt war, durch meine ruhige Art benachteiligt zu sein. Aber jetzt, wo ich weiß, was Introversion ist und was nicht, welche Rolle die Schüchternheit dabei spielt und welche Stärken ich als Introvertierte habe, kann ich das Ganze aus einer anderen Perspektive betrachten.

Warum du aufhören solltest, extrovertiert werden zu wollen

Warum macht es Sinn, deinen Wunsch, extrovertiert werden zu wollen, lieber loszulassen? Ganz einfach: Wir können unsere Persönlichkeit nicht verändern. Und uns Verhaltensweisen anzueignen, die nicht zu uns passen, wird uns (langfristig) nicht die Anerkennung oder Aufmerksamkeit bringen, die wir uns wünschen. Denn unser Umfeld wird schnell merken, dass wir uns verstellen und vorgeben, jemand anderes zu sein.

Wäre es nicht viel schöner, wenn du genau die Menschen um dich hättest, die dich mit deiner introvertierten Art mögen und wertschätzen? Bei denen du einfach du selbst sein kannst, ohne dich dafür rechtfertigen zu müssen? Diese Menschen wirst du nur finden, wenn du dich ihnen auch genauso zeigst, wie du bist. Woher sollen sie sonst wissen, dass sie bei dir an richtigen Adresse sind? Also steh dazu, dass du introvertiert bist. Schließlich ist unsere Introvertiertheit nichts Schlechtes – ganz im Gegenteil:

Es ist großartig, introvertiert zu sein!

Warum?

5 Gründe es zu lieben, introvertiert zu sein

  • 1. Unabhängigkeit
    Wir sind nicht auf den ständigen Austausch mit anderen Menschen angewiesen und fühlen uns sogar wohl, wenn wir mal alleine sein können.

  • 2. Analytisches Denken
    Wenn wir ein Problem haben, können wir durch unser analytisches Denken und Reflektieren auch sehr gut allein auf die Lösung kommen.

  • 3. Selten Langeweile
    Außerdem ist uns so gut wie nie langweilig, weil wir uns in unserer eigenen Innenwelt wohlfühlen und schon das Lesen eines Buches, das Musikhören oder ein Spaziergang in der Natur ausreicht, um unsere Energiereserven aufzufüllen.

  • 4. Beste Zuhörer
    Aber natürlich brauchen auch wir ab und zu den Kontakt zu anderen Menschen. Dabei können wir gut zuhören und sagen selbst nur dann etwas, wenn wir auch wirklich etwas zu sagen haben.

  • 5. Ruhepol
    Und wenn es z. B. auf der Arbeit mal stressig wird, strahlen wir immer noch Ruhe aus und können gut durchdachte Entscheidungen treffen.

Und wenn dir diese 5 Gründe noch nicht ausreichen: In diesem Artikel findest du noch weitere Stärken von Introvertierten.

Introvertierte Menschen können ihre ganz eigene, ruhige und kraftvolle Form von Selbstbewusstsein und Charisma entwickeln. Wir müssen nicht extrovertiert werden, um erfolgreich, beliebt, selbstbewusst, charismatisch, (beliebiges Adjektiv einfügen) zu sein. Das alles geht auch auf unsere eigene, ruhige Art.

Selbstbewusstsein ist nämlich etwas, das von innen kommt. Wie wir es dann nach außen bringen – auf laute, leise oder ganz andere Weise – liegt ganz bei uns.

Konntest du dich hier und da wiederfinden? Ich freue mich, wenn du deine eigenen Erfahrungen dazu mit mir teilst!