Situation 1 – Der Mann auf der Party

Ein Mann kommt auf eine Geburtstagsparty. Suchend lässt er den Blick über die zahllosen anderen Gäste streifen, bis er ein bekanntes Gesicht entdeckt. Schnell geht er hinüber, beglückwünscht den Gastgeber und setzt sich dann an einen noch leeren Tisch. Von dort aus beobachtet er das Geschehen. Im Laufe des Abends unterhält er sich gelegentlich mit einzelnen Personen.

Ist er schüchtern oder introvertiert?

Situation 2 – Die Frau im Meeting

Eine Frau sitzt in einem geschäftlichen Meeting mit fünf ihrer Kollegen zusammen. Während die anderen lautstark und in rasendem Tempo diskutieren, hört sie zu und macht sich ein paar Notizen. Ab und zu wird sie von ihren Kollegen etwas gefragt. Dann gibt sie eine kurze, klare Antwort und lässt die anderen weiter diskutieren. Nachdem das Meeting beendet ist, geht sie ihre Notizen noch einmal durch und überlegt sich, was ihr zu den Themen noch einfällt.

Ist sie schüchtern oder introvertiert?

Die Lösung: Es kommt auf die Absicht an

Von außen betrachtet lässt sich oft kein Unterschied zwischen Schüchternheit und Introversion feststellen. Und genau das führt so häufig zu Missverständnissen. Würden wir das Innenleben der Menschen verstehen, könnten wir in beiden Beispielen leicht unterscheiden.

Situation 1 – Der Mann auf der Party

Schüchtern: Eigentlich würde der Mann sich viel lieber unter die Menge mischen. Doch er traut sich nicht, weil er Angst vor dem hat, was die anderen von ihm denken könnten. Also hält er sich lieber im Hintergrund. Wenn er von jemandem angesprochen wird, fängt sein Herz an zu rasen und er bekommt vor Aufregung kaum ein Wort heraus.

Introvertiert: Der Mann fühlt sich mit seinem ruhigen Verhalten vollkommen wohl. Er kennt seine Stärken als Introvertierter und nutzt sie für sich: Er führt lieber Einzelgespräche als mit mehreren Menschen auf einmal zu sprechen.

Situation 2 – Die Frau im Meeting

Schüchtern: Im Grunde würde die Frau viel lieber mit ihren Kollegen diskutieren. Aber sie hat zu große Angst davor, etwas Falsches zu sagen oder für ihre Meinung kritisiert zu werden. Deshalb sagt sie lieber gar nichts, solange sie nicht muss.

Introvertiert: Die Frau hat gar nicht das Bedürfnis, mit zu diskutieren, weil diese Situation (viele Menschen die laut und schnell durcheinanderreden) sie anstrengt. Sie setzt ihre ruhigen Stärken für sich ein, indem sie aufmerksam zuhört und sich Notizen macht. Was ihr aus dieser Perspektive auf- bzw. eingefallen ist, kann sie am Ende des Meetings (oder später z. B. durch eine Mail) mit ihren Kollegen teilen.

Schüchtern oder introvertiert? Das ist der Unterschied

Schüchterne Menschen wünschen sich mehr Kontakt zu anderen Menschen, werden aber von ihren Ängsten daran gehindert. In der Gegenwart von anderen Menschen bekommen sie schwitzige Hände, Herzrasen oder werden rot. Bevor sie kritisiert oder abgelehnt werden, halten sie sich lieber im Hintergrund und sagen wenig bis gar nichts. Dieses Verhalten kann ihnen beim beruflichen Vorankommen, der Suche nach einem Partner oder neuen Freunden und auch in ganz alltäglichen Situationen extrem im Weg stehen. Wer schüchtern ist, hat im Grunde Angst vor Zurückweisung.

Menschen, die selbstbewusst introvertiert sind, genießen es, Zeit für sich allein oder in ruhiger Umgebung zu haben. Wenn sie mit anderen Menschen sprechen wollen, stellt das kein Problem für sie dar. Sie mögen Menschen durchaus – nur eben in geringerer Dosis als Extrovertierte.

Gleichzeitig introvertiert und schüchtern?

Es ist naheliegend, dass viele Introvertierte sich auch ein schüchternes Verhalten antrainiert haben. Denn in einer Welt, in der Lautstärke, Schnelligkeit und Kontaktfreudigkeit hoch geschätzt werden, gehen Menschen mit einer ruhigen Art schnell unter.

Viele Introvertierte bekommen schon von klein auf an von ihrem Umfeld (direkt oder indirekt) vermittelt, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Sie lernen, dass sie mehr aus sich herauskommen müssen, um erfolgreich zu sein. Dass sie sich im Alltag häufiger extrovertiert verhalten müssen, als introvertiert. Und dass es nicht normal ist, wenn sie sich dabei nicht wohlfühlen. Sie merken, dass sie nicht dazugehören, wenn sie eher still sind. Oder sie machen die Erfahrung, dass es gefährlich ist, im Mittelpunkt zu stehen (weil sie z. B. etwas „Falsches“ gesagt haben und kritisiert oder von anderen ausgelacht wurden).

Solche Erfahrungen können zu negativen Glaubenssätzen führen, die uns nachhaltig beeinflussen. Und häufig bringen sie uns dazu, uns nur noch weiter zurückzuziehen und soziale Kontakte immer mehr zu vermeiden. So lange, bis es zur Gewohnheit wird, sich schüchtern zu verhalten.

Merke: Wer schüchtern ist, hat Angst vor sozialen Situationen. Und diese Angst haben wir uns oftmals durch schlechte Erfahrungen antrainiert.¹ Die Introversion dagegen ist eine vollkommen gesunde Persönlichkeitseigenschaft. Und zwar eine, die uns mit vielen Stärken ausstattet.

Mit dieser Unterscheidung kommt auch die gute Nachricht: Wenn Introversion und Schüchternheit nicht zwingend zusammengehören, können wir das, was uns blockiert (die Schüchternheit) überwinden und das, was uns ausmacht (unsere ruhige Art, die Introversion) beibehalten und lieben lernen.

Im Folgenden siehst du noch einmal die größten Unterschiede auf einen Blick – damit du in Zukunft treffsicher unterscheiden kannst, ob jemand schüchtern oder  introvertiert ist.

Introvertiert oder schüchtern – die 7 erstaunlichen Unterschiede

1. Blockade vs. Erfolg

Schüchternheit blockiert uns darin, ein normales, soziales Leben zu führen. Introvertiert zu sein stattet uns mit vielen Stärken aus, die uns bei unserem Erfolg im Leben unterstützen können.

2. Vermeidung vs. Ruhebedürfnis

Schüchternheit bringt uns dazu, soziale Interaktionen zu vermeiden – aus Angst vor Zurückweisung. Wenn wir „nur“ introvertiert sind, handeln wir zwar oft ähnlich, allerdings aus einem anderen Grund: weil wir ein natürliches Bedürfnis nach Ruhe haben.

3. Angst vs. Selbstvertrauen

Wer schüchtern ist, hat große Angst vor der Bewertung durch andere Menschen und glaubt, nicht gut genug zu sein. Menschen, die introvertiert und selbstbewusst sind, haben damit keine Probleme.

4. Perfektionismus vs. Selbstakzeptanz

Schüchterne Menschen sind oft extrem perfektionistisch, wollen es allen recht machen und Fehler unbedingt vermeiden. Selbstbewusste Introvertierte können ihre Fehler eher akzeptieren, weil sie eine andere Sichtweise darauf haben: Fehler sind wichtig, um daraus zu lernen und bessere Strategien für die Zukunft zu entwickeln.

5. Sozialer Druck vs. Selbstliebe

Schüchterne Menschen geben den Erwartungen ihrer Mitmenschen eher nach, um akzeptiert zu werden. Selbstbewusste Introvertierte lassen sich weniger von diesem sozialen Druck beeinflussen. Sie haben gelernt, ihren Wert nicht von der Meinung anderer abhängig zu machen.

6. Eindruck vs. Ausdruck

Der Fokus von schüchternen Menschen liegt auf ihrer Wirkung nach außen. Jemand, der introvertiert und selbstbewusst ist, legt mehr Wert auf den (leisen) Ausdruck seiner eigenen Persönlichkeit.

7. Erlernt vs. Persönlichkeitseigenschaft

Ein schüchternes Verhalten haben wir uns häufig antrainiert. Introvertiert zu sein ist dagegen eine völlig gesunde Persönlichkeitseigenschaft.

Introvertiert und stolz darauf

Es ist absolut nichts Falsches daran, introvertiert zu sein. Oftmals haben wir nur einfach noch nicht unsere introvertierten Stärken kennengelernt. Das ist ein erster wichtiger Schritt, um unser Selbstwertgefühl nachhaltig zu steigern.

Im Gegensatz zur Introversion kann uns Schüchternheit im Alltag, in beruflichen Situationen oder bei der Suche nach neuen Kontakten im Weg stehen. Doch wie du jetzt weißt, ist Schüchternheit oft nichts weiter als ein erlerntes Verhalten. Und das kannst du mit den richtigen Strategien auch wieder durch ein anderes Verhalten ersetzen. Wie genau das aussehen kann, erfährst du in diesem Blogartikel: Schüchtern? Mit diesen 3 Schritten gehört das schon bald der Vergangenheit an.

Quellenangaben:

1 Vgl. Wehrle, Martin: Der Klügere denkt nach: Von der Kunst, auf die ruhige Art erfolgreich zu sein – Mit Anti-Schwätzer-Training. München: Wilhelm Goldmann Verlag, 2017