„Das war ein echt tolles Gespräch, ich freu mich schon auf das nächste Mal!“
Ich nickte, lächelte und verabschiedete mich.
Und war verwirrt.
Was war an diesem Gespräch so toll gewesen?
Ich hatte fast kein Wort gesagt.
Im Grunde hatte ich nur zugehört und Fragen gestellt.
Und doch musste ich mir zum ersten Mal nicht den Vorwurf anhören, ich wäre zu still.
Obwohl das eigentlich zutreffend gewesen wäre.
Was war dieses Mal anders als bei so vielen vorherigen Gesprächssituationen?
Ich hatte aktiv zugehört.
Nicht einfach bloß genickt und keinen Ton von mir gegeben, sondern Rückfragen gestellt und kurze Kommentare gemacht.
Damit gab ich meinem Gegenüber das Gefühl, dass ich ihn verstand und ihm wirklich zuhörte – und das war offenbar ein gutes Gefühl. So gut, dass er mich unbedingt bald wiedersehen wollte.
Kurz: Ich hatte eine Stärke von Introvertierten und Hochsensiblen zu meinem Vorteil genutzt.
Hätte ich früher gewusst, dass ich überhaupt nicht viel mehr reden musste, damit andere unsere Gespräche toll finden, hätte ich mir die vielen Selbstzweifel ersparen können.
Es ging um Qualität, statt Quantität.
An diesem Tag ist mir klar geworden, dass die meisten Menschen nicht klar definieren können, was sie wirklich wollen.
Wir bekommen zu hören: „Komm doch mal mehr aus dir heraus!“
Dabei ist das oft gar nicht das, was gewünscht ist.
Was die (meisten) Menschen wirklich wollen, ist Aufmerksamkeit.
Sie wünschen sich, dass jemand sie wirklich wahrnimmt und ihnen zeigt, dass ihre Gedanken und Gefühle wichtig sind.
Volle Aufmerksamkeit ist ein echtes Geschenk.
Vor allem in einer Welt, in der ständig das Handy gezückt wird – auch mitten im Gespräch.
„Ich höre dir trotzdem zu!“, heißt es dann meistens.
Aber abgelenkt sind wir trotzdem. Wir hören nur auf halbem Ohr zu und ersticken damit ein aufkommendes Gespräch im Keim.
Außerdem vermitteln wir anderen damit, dass wir gerade nicht ganz für sie da sind. Dass sie nicht so wichtig sind. Denn das Display hat gerade die volle Aufmerksamkeit.
Deshalb ist ungeteilte Aufmerksamkeit in der heutigen Zeit etwas ganz Besonderes. Ein echtes Geschenk, das wir unseren Mitmenschen machen können, ohne Geld auszugeben.
Wenn diese Stärke ausgespielt wird, können wir mit Leichtigkeit Gespräche führen – ohne Stress und Druck und ganz ohne „aus uns herauszukommen“.
Denn Gespräche führen zu müssen, kann für Introvertierte (gerade für die schüchternen unter uns) eine anstrengende Vorstellung sein. Andere Menschen, viele neue Eindrücke und eine Menge unbekannter Wege, wohin das Gespräch führen kann.
Viele Introvertierte sind dann erstmal zurückhaltend und brauchen eine gewisse Zeit, um „aufzutauen“ – gerade bei Menschen, die sie noch nicht gut kennen.
„Komm doch mal aus dir raus!“ und andere nervige Sätze, mit denen Introvertierte konfrontiert werden
Jemand, der sich zurückzieht oder wenig redet, stößt damit aber häufig auf Ablehnung – und wird früher oder später mit Fragen oder Aufforderungen wie diesen konfrontiert:
Warum bist du so still?
Sag doch auch mal was!
Komm doch mal aus dir heraus!
Kommt dir das bekannt vor? Die meisten Menschen, die Introvertierte so bedrängen, tun das aus folgenden Gründen:
- Sie denken, dass wir uns ohne Aufforderung nicht trauen würden, etwas zu sagen
- Sie nehmen an, wir wären gelangweilt oder nicht am Thema interessiert
- Sie glauben, wir würden uns unwohl fühlen, wenn wir nicht aktiv am Gespräch teilnehmen
Dabei sind das (in den meisten Fällen) überhaupt nicht die Gründe, aus denen Introvertierte nicht reden. Natürlich kann es auch sein, dass Schüchternheit im Spiel ist und jemand deshalb keine Gespräche führen mag – das hat dann aber nichts mit Introversion zu tun. Introversion und Schüchternheit sind nämlich zwei vollkommen unterschiedliche Dinge.
Unsere Vorliebe fürs Schweigen hat ganz andere (sehr gute) Gründe. Und genau deshalb, müssen Introvertierte NICHT aus sich herauskommen:
Drei neue Sichtweisen auf Introvertierte in Gesprächen
1. Wir hören zu
Nur wenn wir zuhören, können wir etwas Neues erfahren. Und nur weil jemand gerade nicht redet, heißt das nicht, dass er sich nicht (indirekt) am Gespräch beteiligen würde. Zuhören gehört genauso zum Gespräche führen dazu, wie das Reden.
Ich habe es schon in meiner Schulzeit gehasst, dass aufmerksames Zuhören weniger wertgeschätzt wurde als vor 30 Leuten seine Meinung kundzutun. Beides ist wichtig, aber Introvertierten fällt das Zuhören oft leichter.
Wer wirklich zuhört, ist mit seiner Aufmerksamkeit voll und ganz bei seinem Gegenüber. Er nimmt alles auf, was die Person sagt, registriert Mimik und Gestik und gleicht das mit den eigenen Erfahrungswerten ab. Wenn man dann noch weiter auf das Gesagte eingeht (zum Beispiel mit Fragen oder Feststellungen wie: „Du meinst also …“ Oder: „Das klingt als wärst du darüber sehr glücklich/unzufrieden/…“), nennt man das aktives Zuhören. Dabei bleiben wir bei dem, was unser Gegenüber ausgedrückt hat, statt unsere eigenen Gedanken zu einem Thema zu teilen. Dadurch zeigen wir ehrliches Interesse, die andere Person fühlt sich wirklich wahrgenommen – und wird gleichzeitig ermutigt, noch mehr zu erzählen.
Um gelingende Gespräche zu führen, ist das Zuhören essentiell. Und echtes Zuhören ist meiner Meinung nach auch ein riesiges Kompliment für unsere Gesprächspartner. Viele Menschen hören ihrem Gegenüber nur auf halbem Ohr zu, während sie sich nebenbei schon überlegen, was sie antworten wollen. Sie sind bei sich selbst, nicht bei dem anderen. Da ist es doch eine willkommene Abwechslung, wenn uns jemand tatsächlich seine volle Aufmerksamkeit schenkt.
Fazit: Wenn Introvertierte schweigen, sind wir sehr wahrscheinlich dabei, aufmerksam zuzuhören und alle Eindrücke um uns herum aufzunehmen. Wir schenken dem, was um uns herum passiert, unsere volle Aufmerksamkeit. Und das ist mindestens genauso wertvoll, wie zu reden.
2. Wir denken nach
Introvertierte brauchen Zeit, um Eindrücke zu verarbeiten. Ich für meinen Teil verbringe einen Großteil meines Alltags damit, zu beobachten und nachzudenken – auch während eines Gespräches. Manchmal achte ich dabei z. B. ganz bewusst auf die Tonlage meiner Gesprächspartner, auf die Mimik oder die Wörter, die sie verwenden. Oder ich gehe den gedanklichen Impulsen nach, die in meinem Kopf durch das Gehörte auftauchen – ohne sie laut auszusprechen. Diese Gedankengänge faszinieren mich so, dass ich schon total zufrieden damit bin, einem Gespräch einfach nur zu lauschen, statt selbst etwas dazu beizutragen.
Gespräche führen hört übrigens nicht unbedingt mit dem letzten Satz auf: Für Introvertierte gehört die Zeit nach einem Gespräch (oder die Gesprächspause zwischendurch) genauso zum Kontaktepflegen dazu wie das Gespräch selbst. Denn erst in dieser Zeit können wir die vielen kleinen Puzzleteile, die wir währenddessen gesammelt haben, zu einem Gesamtbild zusammensetzen.
Bei mir ist es sogar oft so, dass ich mich Menschen im Nachhinein – also wenn ich Zeit hatte, über unser Gespräch nachzudenken – noch ein Stückchen näher fühle, als währenddessen.
Fazit: Introvertierte fühlen sich in ihrer Gedankenwelt sehr wohl. Wir brauchen immer wieder Zeit, um nachzudenken, unsere Gedanken zu ordnen und unsere Innenwelt zu erkunden. Diese bewusste Auszeit gehört für uns genauso zum Gespräche führen dazu wie das Reden selbst – denn dabei setzen wir die vielen Puzzleteile, die wir während des Gesprächs bekommen haben, zu einem Gesamtbild zusammen.
Wenn Introvertierte also gerade nicht reden, kann es gut sein, dass sie einfach etwas Zeit brauchen, um über das Gehörte, Wahrgenommene oder Erlebte nachzudenken.
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3. Wir beobachten
Insbesondere nach einem Tag inmitten von Menschen brauchen Introvertierte etwas (oder gerne auch viel) Zeit für sich. Denn mit niedrigem Energielevel fällt es uns schwer, uns zu konzentrieren, weil jeder neue Reiz von außen Energie erfordert – die aber irgendwann einfach nicht mehr da ist.
Manchmal lässt sich das aber nicht direkt umsetzen und wir verbringen Zeit mit anderen Menschen, obwohl unser Energielevel längst in den Keller gesunken ist. Aktives Gespräche führen kann dann extrem anstrengend werden.
Ich nehme (nicht nur dann, aber oft auch in solchen Fällen) gerne die Rolle des Beobachters ein. Und damit bin ich nicht allein: Manchmal wollen Introvertierte es einfach nur genießen, die vielen Eindrücke um sich herum aufzunehmen, ohne abgelenkt zu werden. Es kann total angenehm und entspannend sein, die Rolle des Beobachters einzunehmen. Sich aus dem Gespräch und dem Geschehen auszuklinken und trotzdem mittendrin zu sein. Das Ganze einfach nur wahrzunehmen, den eigenen Gedanken dazu zu lauschen und dabei ganz bei sich selbst anzukommen.
Fazit: Nur weil Introvertierte sich gerade nicht aktiv am Gespräch beteiligen, heißt das nicht, dass sie abwesend sind. Vielleicht wollen sie es einfach nur genießen, ihre Umgebung (und auch das Gespräch) in Ruhe wahrzunehmen. Da ist jedes „Komm doch mal aus dir raus!“ völlig fehl am Platz, denn es geht ihnen in dem Moment ja gerade um das genaue Gegenteil. Sie genießen die Momente der Ruhe – und sind danach auch viel eher wieder bereit, aktiv ein Gespräch zu führen.
Gespräche führen auf introvertierte Art: Es ist okay, ruhig zu sein
Wenn du introvertiert bist und häufig dazu aufgefordert wirst, mehr aus dir herauszukommen: Mach dir bewusst, dass dein Wert nicht davon abhängt, wie viel du sagst. Das Zuhören, Nachdenken und Beobachten gehört zu Gesprächen genauso dazu, wie das Reden.
Durch die bekannten Aufforderungen oder Fragen (Warum bist du so still? Sag doch auch mal was! Komm doch mal aus dir heraus!), kann schnell die Annahme entstehen, dass es nicht in Ordnung wäre, still zu sein. Dass man um jeden Preis reden müsste, um wertgeschätzt zu werden. Dass man extrovertiert werden sollte, um dazuzugehören.
Aber das ist nicht der Fall. Es ist nicht besser oder schlechter introvertiert oder extrovertiert zu sein.
Du brauchst nicht die ganze Zeit reden, um wahrgenommen zu werden – du kannst auch auf introvertierte Art Gespräche führen. Es ist okay, dich in ruhiger Umgebung wohler zu fühlen als unter vielen Menschen. Und nur, weil jemand sehr extrovertiert ist, bedeutet das nicht, dass diese Person nicht auch mal das Bedürfnis hätte, alleine zu sein. Genauso können sich auch Introvertierte mal extrovertiert verhalten und zum Beispiel mit vielen Menschen Gespräche führen oder sich für etwas einsetzen, was ihnen wichtig ist.
Wir sind nicht auf einer Seite der Skala festgewachsen. Aber wir haben eine persönliche Wohlfühlzone, in die es uns immer wieder zurückzieht – und von dort schöpfen wir unsere Kraft.
Wie ist das bei dir: Wurdest du schon oft dazu gedrängt, mehr aus dir herauszukommen? Wie gehst du damit um? Ich bin gespannt auf deine Antwort!
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