Tagebuch schreiben, das kennen viele noch aus ihrer Jugend. Dort wurde alles hineingekritzelt, was man sonst niemandem anvertrauen konnte (oder wollte): von heimlichen Schwärmereien, über fiese Ungerechtigkeiten bis hin zu peinlichen Momenten, von denen niemand je erfahren sollte.

Und selbst, wenn du nicht so der Typ fürs Tagebuch schreiben warst – hast du schon mal auf irgendeine Art deine Gedanken aufgeschrieben und dich danach direkt besser gefühlt? Als ob Zettel und Stift dir als stille Zuhörer eine schwere Last abgenommen hätten?

Dann hast du (vielleicht ohne es zu wissen) die Schreibtherapie für dich genutzt.

Schreibtherapie ist eine Form der Kunsttherapie

Es gibt dafür viele verschiedene Begriffe: therapeutisches Schreiben, Schreibtherapie, kreatives Schreiben, Poesietherapie oder expressives Schreiben. Egal, wie du es nennen möchtest, wichtig ist dabei Folgendes: Wenn das Schreiben auf irgendeine Art zu deiner Persönlichkeitsentwicklung oder deinem Wohlbefinden beiträgt, hat es eine therapeutische Wirkung. Das kann auch bei kreativem Schreiben (also wenn du eine Geschichte über fiktive Charaktere schreibst) der Fall sein.

Die Kunsttherapie hilft dabei, die eigene Innenwelt besser wahrzunehmen und Gedanken und Gefühle auf kreative Art auszudrücken. Dabei werden nicht nur unsere kreativen Fähigkeiten geschult, sondern auch unsere sinnliche Wahrnehmung. Wenn du dich wirklich darauf einlässt, kannst du z. B. durch das Malen, zeichnen oder basteln bestimmte Emotionen hervorrufen und ihnen nachgehen. Das funktioniert natürlich auch beim Musikhören bzw. selbst musizieren (Musiktherapie), beim Bücherlesen (Bibliotherapie) oder eben dem Schreiben (Schreibtherapie) – diese bewusste Beschäftigung mit kreativen Medien, kann eine heilende Wirkung haben.

Schreibtherapie ist also vor allem dazu gut, Gefühle zu verarbeiten und sich selbst zu reflektieren.

Hintergrund der Schreibtherapie: Expressives Schreiben

Das expressive Schreiben wurde in den 80er-Jahren von den Psychologen James W. Pennebaker und Joshua Smyth entwickelt. Sie untersuchten den Einfluss des Schreibens auf die psychische und körperliche Gesundheit und legten damit den Grundstein für die Schreibtherapie.
In ihrem 4-tägigen Experiment teilten sie die Teilnehmer in zwei Gruppen auf: Die eine sollte über aufwühlende Ereignisse aus ihrer Kindheit schreiben, die andere nur normale Alltagserlebnisse festhalten. Das Ergebnis: Die Testgruppe, die sich schreibend mit schwierigen Erlebnissen auseinandergesetzt hatte, ging in den Folgemonaten nur halb so oft zum Arzt. Pennebaker und Smyth schlossen daraus, dass die Schreibtherapie das Immunsystem der Testgruppe gestärkt hatte – das war der Startschuss für weitere Studien. ¹

Diese schreibende Art der Selbstreflexion kann also nicht nur Spaß machen, sondern durchaus auch positive Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben. Denn: Sich mit seiner Innenwelt auseinanderzusetzen, wirkt wie eine emotionale Reinigung. Wir verdrängen unsere Gedanken und Gefühle nicht länger, sondern holen sie ganz bewusst an die Oberfläche. Warum es so wichtig ist, Gefühle bewusst wahrzunehmen (inkl. einer einfachen Anleitung dafür), kannst du hier nachlesen.

Die Vorteile der Schreibtherapie: Wobei das Tagebuch schreiben dir helfen kann

  1. Selbstreflexion
    Du kommst viel mehr in Kontakt mit deiner Innenwelt (Gedanken und Gefühle) und lernst, sie bewusst wahrzunehmen und zu reflektieren.
  2. Struktur
    Beim Schreiben passiert automatisch auch Folgendes: Du strukturierst die Geschehnisse und lernst, die wichtigsten Punkte der Reihe nach zu ordnen. Dadurch kannst du deine Gedanken und Erlebnisse auch mündlich besser in Worte fassen und sie mit anderen teilen (wenn du es willst).
  3. Zusammenhänge erkennen
    Nach (oder auch schon während) dem Schreiben nimmst du eine andere Perspektive ein. Dadurch kannst du mit objektivem Blick auf deine Erlebnisse schauen und Zusammenhänge und Muster besser erkennen.
  4. Du kannst Vergangenes klären und loslassen
    Tagebuch schreiben funktioniert nicht nur mit aktuellen Erlebnissen – du kannst damit auch weiter zurückliegende Ereignisse, die dich bis heute belasten, aufarbeiten.
  5. Innere Stärke aufbauen
    Durch das Tagebuch schreiben schaust du dir emotionale Erlebnisse genau an, statt sie zu verdrängen. Und dieser bewusste Umgang mit Herausforderungen macht dich innerlich stark.

Tagebucheintrag schreiben – 4 Varianten

Du fragst dich, wie genau du einen Tagebucheintrag schreiben kannst? Hier sind vier verschiedene Herangehensweisen dafür:

1. Kurzfassung: Eine Zeile für einen Tag

Es war ein langer Tag und du willst abends nur noch todmüde ins Bett fallen, kannst kaum noch den Stift halten, aber willst trotzdem noch deine Erlebnisse festhalten? Dann schreib nur ein paar Stichworte auf, mit denen du dich sofort wieder an die wichtigsten Erlebnisse des Tages erinnerst:

• 11. Mai 2020: Zu Hause. Sport. Badewanne. Kuchen backen. Netflix und Kuchen genießen.

• 03. Juni 2020: Julia. Wiedersehen nach 6 Monaten. Eis gegessen. Altstadt. Sonne. Spaß.

• 17. Juli 2020: Arbeit. Schwieriges Projekt & Kunde. Stress. Selbstzweifel. Kopfschmerzen. Lösung gefunden. Gute Laune.

Du kannst bei diesen Einzeilern auch noch Platz lassen und die Tagebucheinträge zu einem späteren Zeitpunkt weiter ausschmücken.

2. Von außen nach innen

Wenn du bewusst auch deine Innenwelt erforschen willst, es dir aber noch schwerfällt, probiere mal diese Strategie aus: Fokussiere dich erst auf die Fakten (Was ist passiert? Wer war dabei? Wo und wann? Was hast du alles wahrgenommen?) und geh dann bewusst in deine Innenwelt. Dabei können dir diese beiden Fragen helfen:

• Was hast du gemacht, gesehen, gehört oder wahrgenommen?

• Was sind deine Gedanken und Gefühle dazu?

Damit kannst du übrigens nicht nur „realen Ereignissen“ sondern auch deinen Träumen näher auf den Grund gehen.

3. Expressives Schreiben

Das expressive Schreiben nach Pennebaker funktioniert so:

1. Du brauchst einen ruhigen Ort, Stift, Papier und 15-20 Minuten Zeit.

2.
Suche dir ein Ereignis aus deinem Leben aus, das dich emotional aufwühlt oder auf irgendeine Weise belastet.

3. Schreib alles auf, was dir dazu in den Sinn kommt.

Tipp: Notiere dir dabei alles ohne Unterbrechung und kümmere dich nicht um Rechtschreibung, Grammatik oder die Erwartungen anderer Menschen. Es geht nur darum, deine Gedanken und Gefühle an die Oberfläche (bzw. aufs Papier) zu bringen – damit du sie dir dann bewusst anschauen und reflektieren kannst.

4. Achtsamkeitstagebuch führen

Mittlerweile gibt es auch viele wunderbare Tagebücher zu kaufen, in denen du für jeden Tag bereits vorbereitete Fragen oder Aufgaben findest. Perfekt für regelmäßige Selbstreflexion!

Ein tolles Beispiel hierfür ist das 6-Minuten-Tagebuch von Dominik Spenst. Dafür brauchst du dir nur morgens und abends jeweils 3 Minuten Zeit nehmen – und gehst allein durch diese wenigen Minuten schon viel achtsamer durch deinen Alltag. So funktioniert das Ganze:

Morgens startest du mit diesen drei Fragen in den Tag:
1. Ich bin dankbar für: 1… 2… 3…
2. Was würde den heutigen Tag wundervoll machen?
3. Positive Selbstbekräftigung (Affirmation): Ich bin…

Und abends beendest du den Tag mit diesen drei Fragen:
Was habe ich heute Gutes für jemanden getan?
Was werde ich morgen besser machen?
Tolle Dinge, die ich heute erlebt habe: 1… 2… 3…

Außerdem gibt es wöchentlich wechselnde Herausforderungen, je 5 neue Fragen zur Selbstreflexion pro Woche und einen Monats-Check für jeden Lebensbereich.

Mir persönlich gefällt dieses Konzept sehr, denn so muss ich nicht jeden Tag mit einer leeren Seite und der großen Frage im Kopf starten, was ich heute bloß in mein Tagebuch schreiben soll (denn manchmal erlebe ich viel zu viel auf einmal und manchmal gefühlt wochenlang immer nur das Gleiche). Dank der wiederkehrenden Fragen für jeden Tag, achte ich auch schon im Alltag viel mehr darauf, wofür ich z. B. heute wirklich dankbar bin oder welche Erlebnisse ich am Abend als erinnerungswürdig einstufen und in mein Tagebuch schreiben möchte.

Fazit zum Tagebuch schreiben

Tagebuch schreiben kann einen positiven Einfluss auf dein Wohlbefinden haben. Wenn du dich über das Schreiben regelmäßig mit deiner Innenwelt verknüpfst, lernst du nicht nur dich selbst besser kennen, sondern gehst auch automatisch viel achtsamer durch deinen Alltag.

Sag mir in den Kommentaren gern: Schreibst du Tagebuch? Welche Erfahrungen hast du damit gemacht? Hat sich dadurch etwas für dich verändert?

Literaturhinweise:

¹ Pennebaker, James W., Smyth Joshua M.: Opening Up by Writing It Down: How Expressive Writing Improves Health and Eases Emotional Pain. New York: The Guilford Press, 3. Auflage 2016