Du hörst lieber zu, als selbst zu reden? Im kleinen Kreis fühlst du dich deutlich wohler als unter vielen Menschen? Du brauchst immer mal wieder Zeit für dich, um deine Akkus wieder aufzuladen? Du strahlst meistens eher Ruhe und Besonnenheit aus als laut und schnell zu agieren?
Großartig, dann bist du sehr wahrscheinlich introvertiert! Und damit bist du nicht allein, denn schätzungsweise besitzen ein Drittel, wenn nicht sogar die Hälfte der Weltbevölkerung dieses Persönlichkeitsmerkmal. In diesem Artikel findest du die wichtigsten Informationen rund um Introversion und Extraversion.
Introvertiert, extrovertiert oder sogar beides?
Die Begriffe Introversion und Extraversion wurden von dem Psychiater Carl Gustav Jung geprägt.¹ Im Grunde beschreiben sie, wie wir mit unserer Umwelt umgehen: Wo liegt unser Fokus? Eher auf der Innenwelt oder auf der Außenwelt?
Schon die Definition des Wortes introvertiert verrät uns die wichtigste Eigenschaft. Das Adjektiv introvertiert leitet sich von den Wörtern intro (lat. für „hinein, nach innen“) und vertere (lat. für „wenden“) ab. Demnach hat der Begriff introvertiert die Bedeutung: nach innen gewandt.
Das genaue Gegenteil hierzu ist das Adjektiv extrovertiert (oder auch extravertiert). Der hintere Teil des Wortes, ist der Gleiche wie bei introvertiert. Doch der erste Teil geht auf das lateinische Wort „extra“ zurück, was so viel bedeutet wie: außerhalb, nach außen.
Und weil unsere Welt nicht nur schwarz oder weiß ist, gibt es auch noch etwas dazwischen: die Ambiversion. Sie beschreibt einen Zustand zwischen Introversion und Extraversion. Es bedeutet, dass man sich keiner der beiden Seiten wirklich eindeutig zuordnen kann. Der vordere Teil von dem Begriff ambivertiert kommt von dem Wort: ambo (lat. für „beide“). Zusammengesetzt hat das Wort ambivertiert also in etwa die Bedeutung: zu beiden Seiten gewandt.
Per Definition tendieren Introvertierte also eher zu einer nach innen gewandten Haltung. Extrovertierte richten ihre Aufmerksamkeit und Energie eher nach außen. Und Ambivertierte? Sie wählen häufig einen Mittelweg oder wechseln je nach Situation von introvertiert zu extrovertiert.
1. Wir haben alle sowohl introvertierte als auch extrovertierte Anteile
Introversion und Extraversion können wir uns als zwei äußerste Punkte einer Skala vorstellen. Auf der einen Seite liegt die Introversion, auf der anderen Seite die Extraversion (und die Ambiversion in der Mitte). Die meisten Menschen können sich irgendwo rund um den Mittelpunkt einordnen, mit einer natürlichen Tendenz entweder zur einen oder der anderen Seite.²
Komplett auf eine Seite festgelegt sind wir deshalb aber nicht! Wir können uns frei auf dieser Skala bewegen. Je nach Situation, kann sich jeder von uns mal introvertiert und mal extrovertiert verhalten (nicht nur Ambivertierte). C. G. Jung sprach sogar davon, dass wir mal „introvertieren“ und mal „extrovertieren“.
Auch wenn wir ganz flexibel die Seiten wechseln können, haben wir dennoch eine natürliche Präferenz. Und darauf kommt es an, wenn wir wissen wollen, ob wir eher introvertiert, ambivertiert oder extrovertiert sind. Was am ehesten auf uns zutrifft, hängt davon ab, an welcher Stelle der Skala wir uns am wohlsten fühlen.
2. Wie Introvertierte und Extrovertierte Energie gewinnen
Introvertierte ziehen Energie aus dem Kontakt mit ihrer Innenwelt: ihren Gedanken, Gefühlen, Ideen und Eindrücken. Deshalb bevorzugen sie eine ruhige Umgebung, um ihre Akkus wieder aufzuladen. Sie lesen vielleicht ein Buch, gehen spazieren, schauen ihre Lieblingsserie, schreiben Tagebuch, hängen einfach ihren Gedanken nach oder tauschen sich im Einzelgespräch mit guten Freunden aus.
Extrovertierte bekommen ihre Energie durch den Kontakt mit der Außenwelt: durch andere Menschen, Orte, Dinge oder Aktivitäten. Sie brauchen Reize von außen, um Energie zu tanken. Deshalb treffen sie sich gerne mit vielen Freunden oder gehen zu Veranstaltungen und anderen Aktivitäten, wo sie viele neue Eindrücke bekommen.
Was Introvertierte entspannt, stresst Extrovertierte – und umgekehrt.
3. Wie Introvertierte und Extrovertierte Eindrücke verarbeiten
Wusstest du, dass Introvertierte für die Verarbeitung von Eindrücken mehr Energie verbrauchen, als Extrovertierte? Silvia Löhken erklärt in ihrem Buch Leise Menschen, starke Wirkung, dass Introvertierte in einem Bereich ihres Gehirns (genauer gesagt: im frontalen Kortex) eine höhere elektrische Aktivität haben.³ Dieser Bereich ist für innere Vorgänge zuständig: für das Lernen, Erinnern, Entscheiden und Problemlösen.
Besonders interessant ist dabei, dass diese hohe Aktivität bei uns selbst im entspannten Zustand anhält. Das heißt, dieser Energieaufwand ist ständig da – wie ein Programm, das automatisch im Hintergrund abläuft. In unseren Köpfen passiert also auch schon im entspannten Zustand eine Menge. Wenn dann von außen noch mehr Eindrücke dazukommen, erhöht sich dementsprechend auch der Energieaufwand (und wir brauchen schneller wieder eine Ruhepause).
Gleichzeitig haben Introvertierte auch buchstäblich eine längere Leitung als Extrovertierte. Unsere Nervenbahnen sind länger und die aufgenommenen Reize müssen einen weiteren Weg zurücklegen, um verarbeitet zu werden. Im Klartext: Es wird mehr Zeit für die Datenübertragung benötigt. Kein Wunder, dass wir manchmal etwas länger brauchen, um zu reagieren. Bei Extrovertierten sind die Wege kürzer und dadurch sind ihre Reaktionen schneller.
Introvertierte brauchen also 1. mehr Energie und 2. mehr Zeit für die Verarbeitung von Eindrücken als Extrovertierte.
4. Was Introvertierte und Extrovertierte motiviert und antreibt
Auch in Sachen Motivation gibt es große Unterschiede. Susan Cain beschreibt Introvertierte als sicherheitsorientiert und Extrovertierte als belohnungsorientiert.⁴
So sind äußere Anreize (z. B. Status oder Gewinn) für Extrovertierte besonders attraktiv. Introvertierte sprechen darauf weniger an. Sie wollen Risiken und Konflikte wegen ihres großen Sicherheitsbedürfnisses am liebsten ganz ausschließen können. Deshalb denken sie auch immer erst gründlich nach, bevor sie etwas sagen oder tun. Extrovertierte gehen dagegen eher Risiken ein, wenn die Aussicht auf Erfolg besteht. Dabei nehmen sie auch Konflikte oder undurchdachte Aktionen in Kauf.
Gerade wenn wir uns also mal aus unserer Komfortzone herauswagen, sollten wir Introvertierten auch an unser Sicherheitsbedürfnis denken. Wir müssen nicht wie Extrovertierte direkt mit Anlauf ins kalte Wasser springen. Wir dürfen uns selbst die Erlaubnis geben, Schritt für Schritt ins Wasser zu gehen. In unserem eigenen Tempo. Dann erreichen wir auch viel eher, was wir uns vorgenommen haben, als wenn wir uns selbst unnötig unter Druck setzen.
5. Introvertierte bevorzugen Tiefe statt Breite
Egal, ob es um unsere sozialen Kontakte, Erfahrungen oder das Aneignen von Wissen geht – Introvertierte und Extrovertierte haben dabei unterschiedliche Vorlieben:
Wir Introvertierten fühlen uns anderen Menschen viel eher verbunden, wenn wir einen Teil ihrer Innenwelt kennengelernt haben – und uns bestenfalls selbst darin wiederfinden können.
5,5. Schüchternheit ist nicht typisch introvertiert
Introvertierte und schüchterne Menschen verhalten sich zwar manchmal ähnlich (weil sie sich zurückziehen), aber aus vollkommen anderen Gründen:Wer schüchtern ist, hat Angst davor, von anderen Menschen verurteilt oder abgelehnt zu werden. Ein schüchterner Mensch wünscht sich mehr Kontakt zu anderen, wird aber von seiner Angst daran gehindert.
Introvertierte Menschen dagegen genießen es, Zeit für sich allein oder in ruhiger Umgebung zu haben. Wenn sie mit anderen Menschen sprechen wollen, stellt das kein Problem für sie dar. Sie mögen den Kontakt zu anderen Menschen durchaus – nur eben in geringerer Dosis als Extrovertierte.
Fazit: Schüchternheit ist ein Verhalten, das uns im Umgang mit anderen Menschen blockieren kann. Wir haben uns dieses Verhalten oftmals durch schlechte Erfahrungen antrainiert. Die gute Nachricht: So wie wir es uns antrainiert haben, können wir es uns auch wieder abtrainieren.
Introversion ist eine vollkommen gesunde Persönlichkeitseigenschaft. Und zwar eine, die uns mit vielen Stärken ausstattet.
Ob introvertiert oder extrovertiert – beides ist gut
Wichtig: Es ist nicht besser oder schlechter, introvertiert oder extrovertiert zu sein. Wir haben nur unterschiedliche Temperamente und Bedürfnisse und das ist auch gut so.
Was fangen wir mit dieser Erkenntnis an? Wenn wir wissen, in welche Richtung unsere natürliche Präferenz geht, können wir unseren Alltag so gestalten, dass wir uns wohlfühlen. Die Kunst liegt darin, die eigenen Stärken und Bedürfnisse zu kennen und sie bestmöglich auszuleben. Für uns bedeutet das: die Zeit für uns selbst und die Zeit mit anderen so aufzuteilen, dass es uns damit wirklich gut geht.
Quellenangaben
1 Vgl. Jung, Carl G.: Psychologische Typen. Zürich: Rascher Verlag, 1967
2 Vgl. Löhken, Sylvia: Leise Menschen – starke Wirkung: Wie Sie Präsenz zeigen und Gehör finden. Piper Verlag, München/Berlin, 2. Aufl., 2016, S. 22
3 Vgl. Löhken, Sylvia: Leise Menschen – starke Wirkung: Wie Sie Präsenz zeigen und Gehör finden. Piper Verlag, München/Berlin, 2. Aufl., 2016, S. 26-27
4 Vgl. Cain, Susan: Still: Die Kraft der Introvertierten. München: Wilhelm Goldmann Verlag, 2013
Danke liebe Vivi für deinen interessanten Beitrag. Nachdem ich beim Lesen irgendwie immer hin und hergeschwankt bin, vermute ich schon fast ambivertiert zu sein. Aber echt toll herausgearbeitet.
Das hört sich doch super an, dann hast du von beiden Seiten etwas :-) Danke dir für deinen Kommentar lieber Marcus, ich freu mich, dass dir der Beitrag gefallen hat :-)
Und wenn man auch schon als kleines Kind schüchtern war?
Das würde ja heißen dass man nie eine „offene Seite“ hatte
Kann man das dann trotzdem abtrainieren?
Hi Kiki!
Schüchternheit kann in gewissem Maße veranlagt sein, sodass man eine höhere Wahrscheinlichkeit hat, sie zu entwickeln. Trotzdem sind dafür bestimmte Auslöser nötig, durch die man sich diese soziale Angst dann Schritt für Schritt antrainiert. Auch frühkindliche Erfahrungen spielen hierbei eine große Rolle und werden oft unterschätzt. Es kann also durchaus sein, dass man durch bestimmte Erlebnisse im Baby- bzw. Kleinkindalter eine Schüchternheit entwickelt hat – aber egal wie oder wann, es ist auf jeden Fall möglich, sich Schüchternheit auch wieder abzutrainieren 😉